Kalle hatte eine fürchterliche Auseinandersetzung mit seinem Vater und Marika hinter sich, die beide seine fixe Idee, wie sie es nannten, als Soldat in den Libanon zu gehen, nicht akzeptierten. Er hatte darauf beharrt, dass er volljährig und somit in der Lage sei, selbst über sein Leben zu bestimmen. Außerdem, aber das behielt er für sich, mußte er weg von seinem zu Hause. Er hatte inzwischen zu viele Feinde. Er hatte Angst, wieder bei Richy und seinen Kumpanen zu landen. Und seit der letzten Begegnung mit Henry wollte er auch vor ihm flüchten. Sabrina mochte er ohnehin nicht mehr treffen. Der Hass auf seinen Vater wurde immer größer. Die Berufsschule ohne eine Lehrstelle war graue Theorie. Und er hatte so viel Zeit zum Grübeln, dass er nur auf dumme Gedanken kam. Sein Leben war leer, und er war nutzlos. Seit Alex mit Petra verheiratet war, blieb ihm auch seine Wohnung als Zuflucht versagt. Zwar trafen sich die beiden Freunde häufig, sie besuchten gemeinsam das Fitness-Center oder kehrten im Club ein. Doch es war nicht mehr so wie früher. Alex ging voll in seiner Rolle als Ehemann und zukünftiger Familienvater auf. Er schien kein anderes Thema mehr zu kennen. Und irgendwie hatte er es wohl auch verlernt zuzuhören, wenn ihm Kalle sein Herz ausschüttete. Sein Vorhaben in den Libanon zu gehen, nahm er nicht ernst. Er wertete es als irrsinnigen Selbstmordversuch. Und dass Kalle bei dem Klassentreffen in zwei Wochen noch einmal versuchen wollte, Carmen für sich zu gewinnen, tat er mit einer abweisenden Handbewegung ab. "Vergiss es, du hast keine Ahnung, was dieser Markus für ein toller Typ ist. Gegen den kommst du niemals an, Kalle." Als Kalle ihn dann gefragt hatte, was an Markus denn so besonders wäre, hatte Alex nach kurzem Überlegen geantwortet. "Er ist ein wunderschöner Märchenprinz, der Carmen einfach alles bieten kann." Kalle hatte verzweifelt erwidert. "Aber Carmen ist doch kein Mädchen, das auf Luxus aus ist." Alex lächelte bitter. "Das glaubst du, weil du ihr keinen Luxus bieten konntest." Kalle mußte sich eingestehen, dass Alex wahrscheinlich recht hatte. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er Carmen am Morgen des Heiligen Abends getroffen hatte. Sie sah aus wie ein wunderschön herausgeputztes Püppchen, und er hatte das Gefühl gehabt, sie schien das zu genießen. "Ich hatte ehrlich gesagt Angst, dass Petra auf Markus hereinfällt.", gab Alex, wenn auch ungern, zu. Kalle sah seinen Freund vorwurfsvoll an. "Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst nicht so besitzergreifend sein. Petra liebt dich, und sie steht zu dir. Durch deine verdammte Eifersucht machst du nur alles kaputt, Alex. Sie hat sich wegen dir mit ihrer Familie entzweit, und die Wehners sind eine Burg. Sie ist schwanger und wird Zwillinge von dir bekommen. Ihr kennt euch gerade mal ein paar Monate, und sie hat dich geheiratet. Was erwartest du denn eigentlich noch? Du solltest dich glücklich schätzen, Alex. Ich habe erst begriffen wie schön das Leben mit Carmen war, als sie fortgegangen ist. Sicherlich sind die Dinge bei uns anders gerichtet, aber du läufst genauso in Gefahr, dein Glück zu zerstören wie ich..." Alex sah Kalle verblüfft an. Sein Freund sprach zu ihm wie zu einem eigensinnigen, törichten Kind. Nur unterschwellig begriff er, dass Kalle wohl irgendwie recht hatte. Es war das vertraulichste Gespräch, das sie seit langem geführt hatten, und als Alex nach Hause kam und Petra geweint hatte, wurde ihm schmerzlich bewußt, dass Kalle weiter dachte als er. Sein Freund schien erwachsen geworden zu sein.
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