Der Raudi

(Erinnerungen an meine Großmutter)

In unserem Haus lebten zwei Mietparteien, und damals war man noch nicht so verwöhnt wie heute. Eine kleine, dreiköpfige Familie wohnte in zwei Zimmern, und wir Kinder mussten uns mit wenig zufriedengeben. Günter war ein Jahr jünger als ich, doch wir waren oft zusammen draußen und spielten fröhlich im Hof. Manchmal zeigte er sein freches, wildes Wesen, doch das gehörte einfach zu ihm dazu.

Es war Winter, und der Graben um unser Grundstück war zugefroren. Eines Tages spielte ich mit meinen Freundinnen, lachend und voller Energie, als Günter plötzlich anfing, uns mit kleinen Eisschollen zu bewerfen. Wir waren damals etwa sieben oder acht Jahre alt und fanden das ziemlich lustig. Günter war in der Straße bekannt als der „Raudi“, der kleine Junge, der gern die Grenzen austestete.
Die Situation zog sich eine Weile hin, doch irgendwann wurde ich ungeduldig. Ich griff nach einer Dose, die neben mir lag, und warf sie nach Günter. Er bückte sich gerade, um eine Eisscholle zu fangen, und hätte sich kaum noch retten können. Die Dose traf ihn an der Stirn – und plötzlich floss Blut in seinem Gesicht herunter, in den Schnee.

Schockiert und voller Angst lief ich sofort in die Küche zu meiner Großmutter. Ich erzählte ihr, was passiert war. Sie nahm ein sauberes Handtuch, kam schnell nach draußen und hielt es an die blutende Wunde. In diesem Moment kam auch Günters Vater dazu, schimpfte mich laut aus und war sehr aufgebracht. Da unser Hausarzt nur zwei Häuser weiter wohnte, brachte er Günter in die Praxis, um die Wunde nähen zu lassen.
Noch immer aufgebracht, kam Günters Vater später zu uns in die Küche. Meine Großmutter, ruhig und verständnisvoll, beschwichtigte ihn und erklärte, dass Günter ja nicht unschuldig war.
Ich hatte lange ein schlechtes Gewissen.

© Anneliese Leding-Albani