Der Spiegelsee

Im dunklen Forst bei Mondenlicht
wo kaum ein Laut die Stille bricht
da ruht ein See so kalt und klar
und niemand ahnt von der Gefahr.

Am Ufer wohnt ein eitel Weib
so schön, dass selbst der Himmel schweigt.
Ihr Haar ist schwarz, den Raben gleich
und ihre Haut wie Samt so weich.

Sie schaut sich oft im klaren See,
und seufzt: "Ich bin so schön, wie ich da steh
kein Weib im Dorf, kein Kind so rein
darf je wie ich so herrlich sein!“

Doch hinter Dornen, wild und spitz
steht mit scheuem Antelitz
eine Maid so schlicht in vollem Licht
ihr Lächeln bricht der Eitlen Sicht.

Der Neid wuchs ihr wie Efeuranken
solch Gift ließ sie im Innern schwanken
„Was strahlt sie so? Was macht sie hehr?
Ich will, dass niemand liebt sie mehr!“

Sie spinnt aus Kräutern eine List
versteckt im Apfel, rot und frisch.
Ein Biss nur – und der Glanz verglimmt,
ein Herz versiegt, das rein gestimmt.

Die Maid sinkt hin, der Wald ist stumm
die Tiere flieh'n, die Zeit ist um.
Die Eitle lacht sehr stolz und kühl —
dann bricht der Spiegel, aus das Spiel.

Zerbrochen liegt ihr eitles Bild
das Wasser trüb, das einst so mild.
Ihr Antlitz grau, verwittert, leer —
der Spiegel nahm die Seele her.

Seitdem hört man bei Nacht ein Klagen
ein Weinen, Fluchen, wildes Fragen.
Es mahnt der See mit kalter Macht
die Eitle, die nie mehr erwacht.

© Hartmut Otto