Auch Carmens Telefon klingelte an jenem Abend, doch sie nahm den Hörer nicht ab, ihr Handy war ausgeschalten und als ihre Mutter bei Markus in Grafing anrief, meldete sich wenigstens seine Stimme. Doch Carmen war nicht bei ihm. Frau Wehners informierte Markus über den Stand der Dinge und bat ihn, Carmen ausfindig zu machen und sie vom Herzinfarkt ihres Vaters in Kenntnis zu setzen. Sie würde sich melden, sobald sie etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Vielleicht rief Carmen auch gleich selbst zu Hause an. Sie war ohnehin die ganze Nacht wach. Markus sicherte ihr zu, Carmen zu informieren und drückte sein Bedauern über Herrn Wehners' Befinden aus. Doch auch Markus erreichte Carmen zunächst nicht. Er war darüber recht ungehalten. Es war weit nach 22 Uhr. Wo trieb sie sich eigentlich herum? Was war neuerdings überhaupt mit ihr los? Häufig sagte sie Verabredungen mit ihm im letzten Moment ab, meistens wegen Kopfschmerzen. Doch wenn sie zusammen waren, verzehrte sie sich nach ihm mit einer Hingabe, die er von ihr bisher nicht gekannt hatte. Einerseits hielt sie ihn auf Abstand, aber andererseits suchte sie bei ihm Halt. Sie bettelte um seine Liebe. War dieser verfluchte Kalle an ihren Gefühlsschwankungen schuld? Hatte sie überhaupt noch Kontakt zu ihm, seit er aus der Armee gefeuert worden war? Wusste sie, dass er jetzt in einer psychiatrischen Klinik in ihrer Nähe stationiert war? Sie hatte es ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Oder war sie ganz und gar dort, wenn sie ihm sagte, dass sie Kopfschmerzen hatte? Bei diesem Gedanken lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. War Carmen wirklich imstande, ihn zu hintergehen? Dabei war er der Meinung gewesen, dass sie ängstlich die Flucht ergreifen würde, wenn sie ihn in seinem derzeitigen Zustand sah. Aber vielleicht bildete er sich das alles ja auch nur ein. Vielleicht gab es einen ganz harmlosen Grund, weshalb er sie momentan nicht telefonisch erreichen konnte. In diesem Moment klingelte das Telefon. Er nahm ab und hörte am anderen Ende der Leitung Carmens vertraute Stimme. "Hallo, Markus! Hier ist Carmen. Du hattest angerufen. Ich habe vorhin wegen meinen Kopfschmerzen einen Spaziergang gemacht und zufällig Andrea getroffen. Wir haben ganz nett geplaudert, und dann hat sie mich noch auf einen Tee eingeladen.", erklärte Carmen. "Hast du schon mit deiner Mutter gesprochen?", unterbrach er sie. "Nein, wieso?", fragte Carmen etwas gereizt. "Nun", begann Markus zögernd. "Sie hat vorhin bei mir angerufen, weil sie dich nirgends erreichen konnte. Ich soll dir ausrichten, dass dein Vater aufgrund eines Herzinfarkts ins Krankenhaus eingeliefert wurde." Er hörte Carmens entsetzten Aufschrei. "Das kann doch nicht wahr sein.", sagte sie fassungslos. Er hörte, wie sie zu weinen begann. "Soll ich dich zu mir holen, Carmen? Vielleicht kann ich dich etwas trösten.", fragte er vorsichtig. "Du kannst deine Mutter von hier aus anrufen." Mit zitternder Stimme antwortete sie. "Ich wäre dir sehr dankbar, Markus, wenn du das tun würdest." Er atmete erleichtert auf. "Ich bin so schnell wie möglich bei dir. Pack schon mal deine Sachen und geh nicht davon aus, dass du so schnell nach Moosach zurückkehrst. Ich denke, wir sollten nach Leipzig fahren.", schlug er vor. "Danke.", hauchte sie in den Hörer. "Danke für alles. Ich warte auf dich." Er lächelte gerührt. "Bis gleich, Schatz, ich lege jetzt auf.", sagte er und schnappte den Autoschlüssel. Er wechselte lediglich die Schuhe, ehe er die Wohnung verließ.
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