Petra hatte einen Brief von ihrer Schwester erhalten, in dem sie ihr mitteilte, dass sie am Wochenende nach Leipzig kommen würde, um sie und Daniel im Krankenhaus zu besuchen. Sie würde bei ihren Eltern übernachten, und sie bat Petra darum, dass sie mit Alex sprechen konnte. Petra ahnte, dass Carmen Alex zur Rechenschaft ziehen wollte. Carmen liebte ihren kleinen Bruder Dani über alles, und die Tatsache, dass Alex ihm gegenüber handgreiflich geworden war, hatte sie bestimmt erzürnt. Wahrscheinlich wollte sie Alex die Leviten lesen, aber Petra befürchtete, dass es nicht gut für ihn war, wenn er Carmen allein ausgesetzt war. Alex wußte genau, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Er zermarterte sich ohnehin mit Selbstvorwürfen, und jede weitere Kritik würde ihn nur zum nächsten Whiskyglas greifen lassen. Insgeheim wünschte sich Petra, Carmen käme sie erst besuchen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen war, dann könnte sie die Begegnung zwischen ihr und Alex besser steuern. Petra entschloss sich, mit Alex über Carmens Anliegen zu reden. Ihr erschien es am vernünftigsten, wenn sie bei der Begegnung zwischen ihm und ihrer Schwester anwesend war. Also würde sie beide zur selben Zeit ins Krankenhaus bestellen. Dann konnte sie zwischen ihnen vermitteln. Petra hoffte, dass Markus Carmen begleiten würde, dann wäre alles leichter. Aber Carmen hatte Markus in ihrem Brief mit keinem Wort erwähnt. Waren die beiden überhaupt noch zusammen? Petra erschrak bei dem Gedanken, denn ihr wurde bewußt, wie sehr Carmen und sie sich auseinandergelebt hatten. Vor nicht allzu langer Zeit waren sie ein Herz und eine Seele gewesen. Sie war, abgesehen von Kalle, der einzige Mensch gewesen, der von Carmens Schwangerschaft wußte, ehe sie das Kind verlor. Und wenn Petra ehrlich war, mußte sie sich eingestehen, dass sie diejenige gewesen war, die ihrer Schwester kein Vertrauen mehr entgegenbrachte. Seit sie Alex kannte, vertraute sie niemandem mehr außer ihm. Sie hatte ihn heimlich geheiratet. Sie hatte die Familie, in der sie zwanzig Jahre lang gelebt hatte, vor den Kopf gestoßen. Sie hatte Alex blind vertraut. Sie hatte alles zugelassen, was er wollte. Und obwohl sie ihn liebte, obwohl sie ihn ohne Bedenken geheiratet hatte, obwohl sie zwei Babies von ihm erwartete, wußte sie nicht, wer er war. Fragen, die seine Vergangenheit betrafen, war er immer konsequent ausgewichen. Sie kannte nur Bruchstücke aus seinem früheren Leben und sie war sich nicht sicher, ob diese der Wirklichkeit entsprachen. Er hatte erwähnt, dass er seinen Vater nicht kannte und dass seine Mutter an Krebs gestorben war, als er vierzehn. Lenze zählte. Seinen Aussagen zu Folge war er im Heim von einem Erzieher sexuell mißbraucht worden. Derzeitig schien seine größte Leidenschaft der Whisky zu sein. Und die Tatsache, dass er sie in letzter Zeit einige Male nachweislich belogen hatte, stimmte sie auch nicht zuversichtlich. Der Gedanke, dass ihre Mutter, Carmen und Daniel vielleicht Recht haben könnten, wenn sie behaupteten, dass Alex möglicherweise nicht der ehrliche, liebenswürdige Verlierer war, für den er sich ausgab, ließ sie erschauern. Doch dann sah sie ihn vor sich mit seinen unschuldigen, goldbraunen Augen. Sie sah den Mann vor sich, der bisher in seinem Leben nur Pech gehabt hatte, und sie wußte, dass sie ihn immer lieben würde.
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