Zu persönlich

Gertrude schreibt seit einiger Zeit Gedichte und kleine Geschichten von ihren Ängsten und Sorgen, von der Liebe Gottes, die ihr widerfahren ist.
Vom Vater der Menschheit, der aus der allertiefsten Trauer wieder Freude, Glück und lebenswertes Leben machen kann. Möchte sie etwas veröffentlichen, drückt man ihr bedauernd ihre kleinen Werke in die Hand.
„Zu unausgegoren, zu Therapie bezogen und vor allen Dingen so persönlich. Möchten Sie, dass man das veröffentlicht? Sammeln Sie ein paar Jahre Erfahrung, schreiben Sie allgemeiner. Man kann doch so etwas Privates nicht drucken.“ Dieser Mann erschauert innerlich, denkt: „Was diese Frau da von sich gibt ist seelischer Striptease. Ekelig, wie kann man sich so der Öffentlichkeit preisgeben?“

Persönlich darf es in der heutigen Zeit nicht zugehen. Man ist auf Abstand bedacht. Möchte aus der Ferne betrachten, nur nicht angesprochen werden. Nähe verbindet, unangenehm, Nähe bürdet Verantwortung auf.

Gertrudes Gedichte rütteln auf, verurteilen Missstände, greifen an, reichen versöhnend die Hand und erzählen von Gottes Wirken in unserem Leben. Ihr ist nichts zu persönlich was sie da schreibt. Ein Profi ist sie nicht und will es auch gar nicht sein. Menschen sollen erreicht werden, die in ständiger Angst leben. Ihnen soll die Botschaft überbracht werden: "Gott sieht dich, er hat dich nicht verlassen. Mir erging es wie dir. Das Leben hatte seinen Sinn verloren, doch er holte mich da heraus…"

Leider wird es keiner lesen. Die Redaktion bedauert: „Zu persönlich!“

© Sabine Brauer 3.6.1998

Das ist nun schon viele Jahre her. Zum Glück hat sie sich nicht davon abhalten lassen, weiter zu machen. Liebe Menschen haben ihr Mut gemacht. Heute sagt niemand mehr zu ihr: Zu persönlich