Carmen konnte Markus nicht dazu überreden, mit ihr übers Wochenende nach Leipzig zu ihrer Mutter zu fahren. Es stand ein Golfturnier an, und da Markus ihretwegen in der letzten Zeit einige Golfhighlights versäumt hatte, blieb er diesmal stur. Carmen versuchte zwar, ihn bis zu ihrer Abfahrt zu überreden, sie zu begleiten, doch er weigerte sich vehement. Sie zog schon in Erwägung, ihre Mutter anzurufen und wegen einer Grippeerkrankung abzusagen, doch letztendlich war sie hartnäckig und fuhr allein nach Sachsen. Sie würde ihrer Mutter, die sicher enttäuscht war, dass sie allein kam, eben erklären, dass Markus wieder einmal am Wochenende arbeiten musste. Sie hasste sich für diese Lüge und manchmal fragte sie sich ernsthaft, ob sie sich nicht selbst etwas vorgaukelte. Doch diesen Gedanken schob sie rasch beiseite. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Sehnsucht nach ihrer Familie, und sie wollte mit Petra reden. Ihre Schwester hatte lange nichts von sich hören lassen. Und außerdem wollte sie natürlich die Zwillinge sehen. Vielleicht würde sie sogar bei Petra und Alex übernachten. Die beiden hatten auf jeden Fall mehr Platz als ihre Mutter, wenngleich diese ihr letztens mitgeteilt hatte, sie werde noch im Sommer mit Dani in Wilfrieds Haus ziehen, um Mietkosten zu sparen. Carmen konnte das zwar verstehen, aber es ging ihr alles ein bisschen zu schnell. Ihr Vater war erst wenige Monate tot. Aber konnte sie ihrer Mutter deshalb einen Vorwurf machen? Wo sie sich doch selbst erst kürzlich von Kalle losgesagt und sich entschieden hatte, Markus zu heiraten. Sie wollte auch bei Kalle vorbeischauen, nur um zu wissen, dass es ihm gutging. Carmen war am Haus, indem ihre Mutter und Dani wohnten, angelangt. Sie parkte ihren Corsa, nahm ihre Tasche aus dem Kofferraum und drückte auf den Klingelknopf. Sofort erklang der Summer. Sie öffnete die Tür und beeilte sich, in die 2. Etage zu gelangen. Ihre Mutter stand bereits in der Tür. Sie umarmten sich. "Oh Carmen, ich freue mich so, dass du da bist. Wo ist denn Markus?", fragte ihre Mutter irritiert. "Er muss am Wochenende wiedermal arbeiten.", antwortete Carmen enttäuscht. "Dein Mann ist wenigstens fleißig und rechtschaffend. Das kann ich von meinem anderen Schwiegersohn ja nicht behaupten. Aber komm erstmal rein." Carmen stellte ihre Tasche im Flur ab. In diesem Moment erschien Dani im Türrahmen. Carmen hielt sich die linke Hand vor den Mund. Ihr kleiner Bruder hatte sich zu einem jungen, attraktiven Mann entwickelt, in einen hübschen Märchenprinzen mit lockigem, braunem Haar und auffallend tiefliegenden, dunkelbraunen Augen und einem kleinen Schnauzbart über der Oberlippe. Er war kräftiger gebaut als sie ihn in Erinnerung hatte und wirkte größer. Carmen flog in seine ausgebreiteten Arme. "Dani, du siehst fantastisch aus.", rief sie aus. Er küsste sie auf die Stirn und gab das Kompliment zurück. "Du siehst auch bezaubernd aus, Schwesterherz. Ich freue mich, dass du glücklich bist, und vor allem, dass du hier bist. Zumal du die einzige von meinen Geschwistern bist, die sich noch hier blicken lässt, obwohl die beiden anderen hier in der Nähe wohnen." Carmen seufzte. Insgeheim hatte sie gehofft, dass sich ihre Mutter und Dani mit Petra und Stefan versöhnt hatten. Aber das war offensichtlich nicht der Fall. Vielleicht konnte sie während ihres Wochenendaufenthalts vermitteln. Für einen Moment lang sehnte sich Carmen nach Bayern zurück. Vielleicht hätte sie doch absagen und mit Markus zum Golfturnier gehen sollen. Dieses Wochenende würde alles andere als Erholung bedeuten und das nicht nur wegen der langen Autofahrt.
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