Als Carmen, spät genug, als dass sie noch jemanden auf Stinau antreffen konnte, dort eintraf, duschte sie und begab sich auf ihr Zimmer. Sie war unglücklich, und sie wußte nicht, was sie tun sollte. Vor zwei Tagen noch hatte sie Markus, und sie hätte auch Kalle haben können, den sie eiskalt abserviert hatte. Wenig später hatte sie Markus' SMS erhalten. Er schrieb, dass es wohl besser wäre, wenn sie sich eine Zeitlang nicht sehen würden. Das alles hatte sie Alex zu verdanken. Er hatte ihm von dem Klassentreffen erzählt und dass auch Kalle dort war. Auch wenn es nicht in seiner Absicht gelegen hatte, böses Blut zu sehen, er hatte auf jeden Fall erreicht, dass Markus an ihrer Ehrlichkeit zweifelte. Und das kam Alex sicher sehr gelegen für seinen Freund Kalle. Und dann Andreas Besuch in der Bibliothek, bei dem sie ihr zu verstehen gab, dass sich Markus am Samstagabend im Kastenwirt mit einer anderen Frau vergnügt hatte. Andrea hatte keinen Grund zu lügen. Außerdem wirkte sie peinlich berührt, als sie Carmen von Markus' Untreue erzählte. Andrea war es schwergefallen. Und Carmen hatte, seit sie zurück war, nichts mehr von Markus gehört. Sie entschloss sich, ebenfalls eine SMS zu schreiben. Sie tippte in ihr Handy ein. 'Hallo Markus, ich gebe zu, einen Fehler gemacht zu haben. Ich hätte dir von dem Klassentreffen erzählen sollen. Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist. Aber ich habe nichts getan, dass dir einen Grund dafür gegeben hätte, während du dich ja am Samstagabend offensichtlich köstlich mit einer anderen Frau amüsiert hast. Hast du auch mit ihr geschlafen?' Carmen lief eine Träne über die Wange, als sie diese Frage eintippte.
Markus hatte Carmens Nachricht empfangen. Er wußte, dass er lügen und sich von jeder Schuld reinwaschen mußte. Er wählte ihre Handynummer. Als sie sich gemeldet hatte, sagte er. "Hör zu, Carmen, es tut mir leid. Ich war wütend auf dich. Aber ich habe nicht mit einer anderen Frau geschlafen." Er hatte keine Ahnung, von wem Carmen informiert worden war. "Ich vermisse dich, Carmen.", beteuerte er. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Wenn du mich noch magst, dann hol mich von der Bücherei ab. Du kennst ja meinen Dienstplan." Carmen legte auf. Sie fragte sich, weshalb sie Markus so ohne weiteres verzeihen konnte, was sie Kalle nicht verziehen hatte. Aber Kalle hatte ja auch gleich mit einer anderen Frau geschlafen, während sich Markus nur herumgeknuscht hatte. Jedenfalls konnte sie ihm nichts anderes vorwerfen, und sie konnte und wollte es sich auch nicht vorstellen. Und sie hatte nicht die Absicht, tiefgreifendere Fragen zu stellen. Sie hoffte nur, Kalle nicht so bald wiederbegnen zu müssen. Sie konnte seine Entscheidung, in den Libanon zu gehen, wirklich nur begrüßen. Was bildete sich dieser arrogante Kerl eigentlich ein? Hatte er wirklich geglaubt, beim Klassentreffen bei ihr landen zu können? Nach all dem, was er ihr angetan hatte? Und dann sah sie wieder seine leeren, blaugrauen Augen vor sich, die verzweifelt in die Leere starrten. Doch diese Erinnerung verwarf sie bald wieder. Wenn Kalle unglücklich war, so traf sie keine Schuld daran. Er hatte ihre Liebe und vielleicht sein Leben zerstört. "Und ich werde immer für dich da sein." Ihre eignen Worte kamen ihr schmerzlich zu Bewußtsein. "Ich werde dich immer lieben.", hatte er gesagt. Und das zu behaupten war viel einfacher. Er war damit keine Verpflichtung eingegangen. Kalle zog es immer vor, den bequemsten Weg zu wählen, selbst wenn er ins Verderben führte.
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